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Anamnese

Anamnese und Dokumentation in der Homöopathie

7. Juli 2010, 19 Uhr, Stuttgart

Prof. Dr. Martin Dinges (Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart) und Dr. Klaus Holzapfel (Stuttgart)
Ort: Literaturhaus, Breitscheidstraße 4, 70174 Stuttgart
Veranstalter: DZVhÄ und Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung

Anamnese und Dokumentation sind vergleichbar mit dem Sammeln von Indizien in einem kriminalistischen Vorgehen

Die homöopathische Anamnese unterscheidet sich fundamental von einer klinischen Anamnese. In ihrem Studium und der klinischen Ausbildung lernen Ärzte, bestimmte Dinge systematisch auszublenden in der klinischen Anamnese, weil sie nicht zielführend sind. Wenn ein Patient, den Beginn seiner rezidivierenden Pneumonien auf das Datum der Tonsillektomie datiert, ist das eine Scheinkausalität und wird vermutlich gar nicht erst zu Papier gebracht. Schließlich hat der Patient ganz offenbar schon vorher Infekte gehabt, sonst wäre die Operation wohl kaum erforderlich gewesen. Auch die Behauptung, dass die Infekte z.B. gehäuft bei Vollmond, oder gehäuft vor einem Wetterwechsel auftreten, wird eher ein anerzogenes Stirnrunzeln hervorrufen als verstärktes Interesse.

Die klinische Anamnese basiert auf einer kausalen Betrachtung, während die homöopathische Anamnese auf dem phänomenologischen Paradigma der Homöopathie beruht

Die homöopathische Anamnese fordert von dem Arzt Unvoreingenommenheit; sie umfasst die körperlichen Beschwerden, deren genaue Empfindung, deren jeweilige Auslöser und Veranlassung, aber auch die Reaktion des Gesamtorganismus auf äußere Einwirkungen (Witterungsbedingungen, Geräusche, Gerüche, Sonne …), die Verlangen und Abneigungen gegen bestimmte Speisen ebenso wie besondere seelische Reaktionen, wie frühere Erkrankungen und Erkrankungen anderer Familienmitglieder.

Ziel der homöopathischen Anamnese ist die Ermittlung auffälliger und ungewöhnlicher Symptome

Besonders diese sind Grundlage der homöopathischen Arzneimittelwahl. Vergleichbar ist dies vielleicht mit dem Sammeln von Indizien in einem kriminalistischen Vorgehen. Auch hier geht es darum aus einer Vielzahl von möglichen Hinweisen, die herauszufinden, die in sich auffällig sind und ein Muster ergeben: Wenn ein Zeuge aussagt, dass der Bankräuber bewaffnet und maskiert war, ist dies kein besonders auffälliges Kennzeichen; weist der Zeuge aber darauf hin, dass der Bankräuber auf einem Holzbein davongelaufen ist, ist dies so auffällig, dass unter Umständen dieses Merkmal alleine hinreichend für die Ermittlung ist. Ähnlich sind es auffällige Symptome des Patienten, die die Mittelwahl insbesondere ermöglichen. Häufig sind dies Symptome, die in der klinischen Anamnese eher ausgeblendet werden.

Das Ziel der Fallaufnahme ist nicht den Patienten in die vorgefertigte Kategorie eines homöopathischen Mittelbildes zu stecken, das Ziel ist die Einmaligkeit herauszubringen – die Untersuchung ist eine individualisierende und nicht eine kategorisierende.

Die Hinweise auf eine klinische Diagnose sind eher ein Nebenprodukt der Anamnese. Die klinische Diagnose hat für die homöopathische Verschreibung nur geringe Relevanz – sie ist sehr wohl aber für die Prognose und damit für die Beurteilung des Verlaufs von Bedeutung.

Auch geht es bei der homöopathischen Anamnese – im Gegensatz zu der psychotherapeutischen Anamnese – nicht um das Verstehen des Patienten

Das vom Patienten wahrgenommene Bild der Erkrankung steht im Zentrum. Auch die Wahrnehmung psychosomatischer Zusammenhänge ist eher ein – häufiges – Nebenprodukt der homöopathischen Anamnese.
Der in der homöopathischen Anamnese-Lehre häufiger gebrauchte Begriff der „Causa“ ist in diesem Zusammenhang missverständlich. Es geht hier nicht um eine Ursache im Sinne einer kausalen Betrachtung. Entscheidend ist, was der Patient als „Ursache“ der Krankheit wahrnimmt. Im klinischen Sinn handelt es sich dabei teils um Auslöser, teils um rein subjektive Zuschreibungen. Ein homöopathischer Arzt wird es ebenso akzeptieren, wenn der Patient sein Rheuma auf eine feuchte Wohnung zurückführt, wie auf eine erlebte Enttäuschung, auf die Unterdrückung einer anderen Krankheit, wie auf eine Impfung.

Er wird die Angabe des Patienten nur insofern hinterfragen, als er beispielsweise klären wird, ob es noch andere Enttäuschungen gab, und ob diese ebenfalls Auslöser irgendwelcher Beschwerden gab. Die geäußerten Zusammenhänge müssen also nicht plausibel im Sinne der konventionellen Medizin sein – sehr wohl aber in sich konsistent. Sie müssen letzten Endes ein Muster ergeben.

Die homöopathische Anamnese ist eine Ortsbestimmung, um den Fortgang der Behandlung zu beschreiben

Nur auf dieser Grundlage ist eine korrekte Verlaufsbeurteilung möglich; die Veränderung bzw. das Verschwinden einzelner Symptome, das Auftreten neuer oder veränderter Symptome sind für weitere Verschreibungen von hoher Relevanz. Der Vergleich mit einer nautischen Positionsbestimmung drängt sich hier geradezu auf.
Auch aus diesem Grund gehört eine sorgfältige Dokumentation der Anamnese und des Verlaufs zu den wesentlichen Grundlagen einer homöopathischen Behandlung nach den Regeln der Kunst.
Samuel Hahnemann hat als einer der ersten Ärzte die Behandlungsdokumentation in die Medizin eingeführt. Neben der ausführlichen Anamnese kann dies als eine seiner wesentlichen Neuerungen gelten. Vor Hahnemann wurden in der Regel nur die Diagnosen und Verschreibungen dokumentiert – in manchen Praxen soll das bis heute im Wesentlichen noch genauso sein.

Und was sagt das Organon zur Anamnese? Unbefangenheit, Aufmerksamkeit und Treue im Aufzeichnen …

§ 83

„Diese individualisirende Untersuchung eines Krankheits-Falles, wozu ich hier nur eine allgemeine Anleitung gebe, und wovon der Krankheits-Untersucher nur das für den jedesmaligen Fall Anwendbare beibehält, verlangt von dem Heilkünstler nichts als Unbefangenheit und gesunde Sinne, Aufmerksamkeit im Beobachten und Treue im Aufzeichnen des Bildes der Krankheit.“

§ 84

„Der Kranke klagt den Vorgang seiner Beschwerden; die Angehörigen erzählen seine Klagen, sein Benehmen, und was sie an ihm wahrgenommen; der Arzt sieht, hört und bemerkt durch die übrigen Sinne, was verändert und ungewöhnlich an demselben ist. Er schreibt alles genau mit den nämlichen Ausdrücken auf, deren der Kranke und die Angehörigen sich bedienen. Wo möglich läßt er sie stillschweigend ausreden, und wenn sie nicht auf Nebendinge abschweifen, ohne Unterbrechung. Bloß langsam zu sprechen ermahne sie der Arzt gleich Anfangs, damit er dem Sprechenden im Nachschreiben des Nöthigen folgen könne.“

§ 85

„Mit jeder Angabe des Kranken oder des Angehörigen bricht er die Zeile ab, damit die Symptome alle einzeln unter einander zu stehen kommen. So kann er bei jedem derselben nachtragen, was ihm anfänglich allzu unbestimmt, nachgehends aber deutlicher angegeben wird.“

§ 86

„Sind die Erzählenden fertig mit dem, was sie von selbst sagen wollten, so trägt der Arzt bei jedem einzelnen Symptome die nähere Bestimmung nach, auf folgende Weise erkundigt: Er liest die einzelnen, ihm berichteten Symptome durch, und fragt bei diesem und jenem insbesondere: z.B. zu welcher Zeit ereignete sich dieser Zufall? In der Zeit vor dem bisherigen Arzneigebrauche? Während des Arzneieinnehmens? Oder erst einige Tage nach Beiseitesetzung der Arzneien? Was für ein Schmerz, welche Empfindung, genau beschrieben, war es, die sich an dieser Stelle ereignete? Welche genaue Stelle war es? Erfolgte der Schmerz abgesetzt und einzeln, zu verschiedenen Zeiten? Oder war er anhaltend, unausgesetzt? Wie lange? Zu welcher Zeit des Tages oder der Nacht und in welcher Lage des Körpers war er am schlimmsten, oder setzte er ganz aus? Wie war dieser, wie war jener angegebene Zufall oder Umstand – mit deutlichen Worten beschrieben – genau beschaffen?“

§ 87

„Und so läßt sich der Arzt die nähere Bestimmung von jeder einzelnen Angabe noch dazu sagen, ohne jedoch jemals dem Kranken bei der Frage schon die Antwort zugleich mit in den Mund zu legen, oder so daß der Kranke dann bloß mit Ja oder Nein darauf zu antworten hätte; sonst wird dieser verleitet, etwas Unwahres, Halbwahres oder wirklich Vorhandnes, aus Bequemlichkeit oder dem Fragenden zu Gefallen, zu bejahen oder zu verneinen, wodurch ein falsches Bild der Krankheit und eine unpassende Curart entstehen muß.“

§ 88

„Ist nun bei diesen freiwilligen Angaben von mehren Theilen oder Functionen des Körpers oder von seiner Gemüths-Stimmung nichts erwähnt worden, so fragt der Arzt, was in Rücksicht dieser Theile und dieser Functionen, so wie wegen des Geistes oder Gemüths-Zustandes des Kranken, noch zu erinnern sei, aber in allgemeinen Ausdrücken, damit der Berichtgeber genöthigt werde, sich speciell darüber zu äußern.“

§ 89

„Hat nun der Kranke – denn diesem ist in Absicht seiner Empfindungen (außer in verstellten Krankheiten) der meiste Glaube beizumessen – auch durch diese freiwilligen und bloß veranlaßten Aeußerungen dem Arzte gehörige Auskunft gegeben und das Bild der Krankheit ziemlich vervollständigt, so ist es diesem erlaubt, ja nöthig (wenn er fühlt, daß er noch nicht gehörig unterrichtet sei), nähere, speciellere Fragen zu thun.“