Krankheits- und Heilungskonzept – Homöopathie im Krankenhaus
17. November 2010, 18.30 Uhr, München
Dr. Artur Wölfel (Oberarzt, Krankenhaus für Naturheilweisen München) und Prof. Dr. Michael Frass (Universitätsklinik Wien )
Ort: Krankenhaus für Naturheilweisen (KfN), Seybothstraße 65, 81545 München-Harlaching
Weitere Informationen: Flyer als PDF
Die Krankheitssymptome und die Krankheit können nicht ohne den erkrankten Gesamtorganismus gedacht werden
Genau genommen weiß der homöopathische Arzt bei der Verabreichung eines Mittels nicht, was anschließend geschehen wird. Er verabreicht einen zum gegenwärtigen Zustand passenden, weil ähnlichen Reiz und weiß, dass dieser nach dem Ähnlichkeitsprinzip eine Heilreaktion des Organismus zur Folge hat, sofern das Mittel richtig gewählt ist.
Die einzelnen Reaktionen und deren Reihenfolge kann er dabei nicht exakt voraussagen. Nicht selten treten z. B. Symptome auf, die der Patient bei der Anamnese nicht erwähnt hat, aber als alte Symptome wieder erkennt. Typischerweise treten solche alten Symptome im Laufe einer Heilungsreaktion en passant auf und verschwinden ohne weiteres Zutun relativ rasch wieder.
Anhand solcher typischer Phänomene und anhand eines typischen Verlaufes (Besserung von Allgemein- und Gemütssymptomen vor den Lokalsymptomen) erkennt der homöopathische Arzt, dass die Heilung auf dem richtigen Weg ist. Bei der Verabreichung des Mittels hatte er aber keine exakt bestimmten, sondern explizit unbestimmte Erwartungen. Die homöopathische Behandlung ist ein offener Prozess.
Die homöopathische Behandlung – insbesondere bei chronischen Erkrankungen – ist ein iteratives Verfahren. Ein Mittel wird verabreicht, bestimmte Teile der Symptomatik verschwinden, andere Symptome verschieben sich nur (Der Charakter des Schmerzes oder seine typischen Auslöser verändern sich), evtl. treten sogar neue Symptome auf. Der Arzt muss nun in der zweiten (und ggf. jeder weiteren) Konsultation insbesondere diese neuen Symptome einschätzen können: Handelt es sich um altbekannte Symptome, ist evtl. Abwarten angebracht, handelt es sich um neue Symptome, die dem Mittel zuzuordnen sind, kann evtl. ebenfalls zunächst abgewartet werden. Handelt es sich definitiv um neue Symptome, ist in jedem Fall ein Wechsel des Mittels angebracht. Die Beurteilung der Reaktion erfolgt unter Bezugnahme auf den vorherigen Zustand und das verabreichte Mittel. Dies sind Aspekte, die auch bei der Planung von Studien mindesten mit in Erwägung zu ziehen sind.
Bei der Behandlung einer Neurodermitis würde im direkten Vergleich zwischen Cortison und einer homöopathischen Behandlung das Cortison immer wesentlich günstiger abschneiden. Cortison ist ein hochwirksames Medikament, das die quälenden Hauterscheinungen rasch und sicher zum Verschwinden bringt. Aus homöopathischer Sicht handelt es sich hier um eine reine Unterdrückung. Wenn nach Absetzen des Cortisons die Hauterscheinungen sofort wieder in voller Blüte vorhanden sind, handelt es sich – nach homöopathischer Auffassung – noch um den günstigeren Fall. Tun sie dies nicht, fragt man sich unwillkürlich welche anderen und schwerwiegenderen Krankheitserscheinungen als nächstes auftreten werden.
Erfahrungen wiederholter Cortison-Anwendungen zeigen den Patienten, dass eine tatsächliche Heilung der Erkrankung dadurch nicht gefördert wird – diese Erkenntnis ist dann nicht selten der Anlass zur Konsultation eines homöopathischen Arztes.
Der Vergleich zwischen einer homöopathischen Behandlung und Cortison-Therapie wäre aus homöopathischer Sicht nicht nur fairer, sondern auch sachgerechter, wenn er drei Wochen nach Absetzen des letzten Mittels durchgeführt wird.
Im Krankheitskonzept der konventionellen Medizin wird Krankheit und damit auch Heilung häufig noch relativ eindimensional gedacht. Die Idealkrankheit aus dem Lehrbuch hat eine einzelne definierte Ursache, sie ist behandelbar mit einem Arzneimittel, dass diese Ursache eliminiert bzw. blockiert. Die neuere Erkenntnis, dass die große Masse der chronischen Erkrankungen multifaktoriell entsteht, ist in Bezug auf entsprechende Behandlungskonzepte bisher merkwürdig blass geblieben. Es wird dann versucht, diese einzelnen Faktoren jeweils ebenso kausal zu behandeln. In der klinischen Praxis führt das dann zu einer Polypharmakotherapie, die sich dann allerdings jeder Evidenz entzieht.
Ebenso zieht sich die klassische abendländische Leib-Seele-Dichotomie wie ein roter Faden durch dieses Krankheitskonzept, wobei die Kausalität zwangsläufig im Materiellen angesiedelt wird. Bei seelischen Erkrankungen wird nach Stoffwechselveränderungen gesucht, die dann als kausal gedeutet und behandelt werden. Erkenntnisse zur psychischen Modifizierung und selbst Genese manifester Pathologien (Psychoonkologie) bleiben für den klinischen Alltag einigermaßen folgenlos. Die Psychosomatik führt als offiziell in den Kanon integriertes Fach ein entsprechendes Schattendasein.
Innerhalb dieses mechanistisch-kausalen Krankheitskonzeptes werden Krankheiten als selbstständige, in sich abgeschlossene Entitäten gedacht. Dies hat zur Folge, dass Zusammenhänge zwischen scheinbar weit von einander entfernten Krankheitserscheinungen Körperregionen und voneinander unabhängigen Funktionskreis-läufen eines Organismus im Denksystem der konventionellen Medizin nicht vorgesehen sind und daher auch nicht wahrgenommen werden – selbst wenn sich solche Zusammenhänge aus dem zeitlichen Ablauf geradezu aufdrängen, oder vom Patienten gar direkt benannt werden. Wenn der Zusammenhang durch die Häufung unabweisbar wird (Neurodermitis / Asthma – Allergische Rhinitis / Asthma) wird er zur Kenntnis genommen, nicht jedoch zur Grundlage einer systemischen Betrachtung.
Zur Illustration ein Aphorismus von Hippokrates: „Wenn bei Schwermütigen (melancholikoi) und bei Nierenkranken (nephritikoi) Blutflüsse aus Hämorrhoiden sich einstellen, ist es gut. “ (Aphorismen des Hippokrates VI, 11)
Nun muss diese Beobachtung von Hippokrates keineswegs richtig sein. Möglicherweise trifft das grundsätzlich nicht zu – oder aber nur in bestimmten Fällen. Angenommen aber, ein Patient erscheint bei seinem Proktologen zu einem Nachsorgetermin und erklärt diesem: „Sie haben vor drei Monaten meine Hämorrhoiden verödet. Damit ist auch alles wunderbar. Ich habe da überhaupt keine Beschwerden mehr! Ich danke Ihnen sehr. – Nur, Herr Doktor, seither geht es mir so schlecht! Ich fühle mich oft so niedergeschlagen und schwach, habe keinen rechten Antrieb und keine Freude.“
Was sagt dann der Proktologe? Vermutlich wird der Proktologe den depressiven Patienten zu einem benachbarten Psychiater überweisen und jeglichen Zusammenhang zwischen seiner erfolgreichen therapeutischen Intervention und dem jetzigen Befinden dieses Patienten weit von sich weisen. Vielleicht wird er die kühne Annahme des Patienten und sein vormodernes Krankheitskonzept etwas belächeln.
Nun kann man sich allerdings fragen, wer hier ein vormodernes Krankheitskonzept hat und wer hier die kühnere Annahme aufstellt – der Arzt oder der Patient?
Wir wissen seit der Entwicklung des Chaos-Konzeptes, dass sich in einem gegebenen komplexen System Zusammenhänge zwischen scheinbar weit voneinander entfernten Phänomenen nie sicher ausschließen lassen. – Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann einen Wirbelsturm in den USA auslösen.
Sofern also Einigkeit darüber besteht, dass der Mensch (wie wohl jeder lebende Organismus) ein komplexes System darstellt, und wenn ferner die Postulate des Chaos-Konzeptes akzeptiert werden, dann scheint es zwingend, die Aphorismen des Hippokrates ernster zu nehmen, als der gedachte Proktologe.
Auch medizingeschichtlich ist die Betrachtung der Gesamtheit der Krankheitssymptome eher die Regel – und die Sichtweise der modernen konventionellen Medizin die Ausnahme.
Eine medizinische Dissertation zur „Lebensqualität bei Patienten mit chronisch venösen und arteriellen Ulcera cruris“ zitiert als Prolog „Das Leben meiner Mutter“ von Oskar Maria Graf:
„Die Heimrathin hatte ein schmerzverzogenes Gesicht, das sich erst allmählich ausglich. (…) Unter der Biegung der Knie wucherten dicke Krampfadern. Die angeschwollenen Waden waren rot und blau angelaufen, und an den Knöcheln hatte sie schrecklich aussehende fransige unregelmäßige Löcher, die das pure feuchte Fleisch bloßlegten.„
Nicht zitiert wird das Resümee der Szene wenige Sätze später: Lang lebten solche „Kindsfüßlerinnen“ oft, und nie klagten sie über ihre Leiden. Einen Doktor holten sie höchstenfalls, wenn der „Rotlauf“, die Blutvergiftung, das kranke Bein bedrohte. Aber sie misstrauten den Ärzten und achteten geradezu ängstlich darauf, daß ihre Wundlöcher nicht verheilten, nicht zuwuchsen, denn, hieß es, „da kann der schlechte Saft aus dem Leib, und wenn er keinen Auslauf mehr hat, dann stirbt man“.
Man kann das als Aberglauben abtun, ebenso gut aber könnte man diese Behauptung mit modernen statistischen Methoden untersuchen. Schließlich beschäftigen sich Meteorologen heute auch mit der Untersuchung von Bauernregeln. In der Volksheilkunde ist der Gedanke weit verbreitet, dass bestimmte Symptome wie z.B. blutende Hämorrhoiden oder offene Beine (Ulcus cruris) – aber auch viele andere Absonderungen – Entlastungssymptome für den Organismus sind und dass ihre Unterdrückung ungünstige Folgen für den Gesamtorganismus haben. In dieser zugespitzten Form ist diese Annahme sicher nicht zutreffend – vielleicht aber enthält sie einen wahren Kern?
Die modernere medizinische Forschung entfernt sich derzeit von den Surrogatparametern wie Bluthochdruck und Cholesterinwert. Handfestere Daten von praktischer Relevanz, wie die tatsächliche Überlebensrate rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Daneben spielen auch Fragen der Lebensqualität eine wachsende Rolle – allerdings bisher nur auf Studienebene und nur bedingt bei der Behandlung des einzelnen Patienten.
Die homöopathische Verlaufsbeurteilung beruht – ebenso wie die Verschreibung – auf der Gesamtheit der Symptome. Die Besserung von Stimmung und Energie hat eine höhere Wertigkeit als die eigentlichen Krankheitssymptome, weil der homöopathische Arzt aus Erfahrung weiß, dass die Besserung von Energie und Stimmung einer günstigen Entwicklung des Gesamtsystems entspricht und eine Besserung der Lokalsymptome in aller Regel folgt. Die Krankheitssymptome und die Krankheit können nicht ohne den erkrankten Gesamtorganismus gedacht werden.
Entwickelt ein Patient mit Neurodermitis unter der laufenden Behandlung seiner Neurodermitis ein Asthma bronchiale, wird dies in der konventionellen Medizin als bedauerlicher aber schicksalhafter Verlauf angesehen. Ein homöopathischer Arzt würde den gleichen Verlauf als Zeichen für einen schweren Kunstfehler auffassen.
Und was sagt das Organon zur Heilung?
• Beobachtung des Krankheits- oder Heilungsverlaufs
§ 253
„Unter den Zeichen, die in allen, vorzüglich in den schnell entstandenen (acuten) Krankheiten, einen kleinen, nicht jedermann sichtbaren Anfang von Besserung oder Verschlimmerung zeigen, ist der Zustand des Gemüths und des ganzen Benehmens des Kranken das sicherste und einleuchtendste. Im Falle des, auch noch so kleinen Anfanges von Besserung – eine größere Behaglichkeit, eine zunehmende Gelassenheit, Freiheit des Geistes, erhöhter Muth, eine Art wiederkehrender Natürlichkeit. Im Falle des, auch noch so kleinen Anfangs von Verschlimmerung aber, das Gegentheil – ein befangener, unbehülflicher, mehr Mitleid auf sich ziehender Zustand des Gemüthes, des Geistes, des ganzen Benehmens und aller Stellungen, Lagen und Verrichtungen, was bei genauer Aufmerksamkeit sich leicht sehen oder zeigen, nicht aber in Worten beschreiben läßt.“
§ 254
„Die übrigen neuen, der zu heilenden Krankheit fremden Zufälle, oder im Gegentheile, die Verminderung der ursprünglichen Symptome, ohne Zusatz von neuen, werden dem scharf beobachtenden und forschenden Heilkünstler über die Verschlimmerung oder Besserung vollends bald keinen Zweifel mehr übrig lassen, obgleich es unter den Kranken einige giebt, welche theils die Besserung, theils die Verschlimmerung überhaupt, weder von selbst anzugeben unfähig, noch sie zu gestehen geartet sind.“
§ 255
„Dennoch wird man auch bei diesen zur Ueberzeugung hierüber gelangen, wenn man jedes, im Krankheitsbilde aufgezeichnete Symptom einzeln mit ihnen durchgeht und sie außer diesen, über keine neuen, vorher ungewöhnlichen Beschwerden klagen können, auch keiner der alten Zufälle sich verschlimmert hat. Dann muß, bei schon beobachteter Besserung des Gemüthes und Geistes, die Arznei auch durchaus wesentliche Minderung der Krankheit hervorgebracht haben, oder, wenn jetzt noch die Zeit dazu zu kurz gewesen wäre, bald hervorbringen. Zögert nun, im Fall der Angemessenheit des Heilmittels, die sichtbare Besserung doch zu lange, so liegt es entweder am unrechten Verhalten des Kranken, oder an andern, die Besserung hindernden Umständen.“
§ 256
„Auf der andern Seite, wenn der Kranke diese oder jene neu entstandenen Zufälle und Symptome von Erheblichkeit erzählt – Merkmale der nicht homöopathisch passend gewählten Arznei – so mag er noch so gutmüthig versichern: er befinde sich in der Besserung, man hat ihm in dieser Versicherung dennoch nicht zu glauben, sondern seinen Zustand als verschlimmert anzusehen, wie es denn ebenfalls der Augenschein bald offenbar lehren wird.“
• Würdigung der Selbstheilungskräfte
Einleitung
„Nur durch Zerstörung und Aufopferung eines Theils des Organisms selbst vermag die sich allein überlassene Natur des Menschen sich aus acuten Krankheiten zu retten, und, wenn der Tod nicht erfolgt, doch nur langsam und unvollkommen die Harmonie des Lebens, Gesundheit, wieder herzustellen.“ (S. 33)
„… der rohen Natur, welche klaffende Wundlefzen nicht wie ein verständiger Wundarzt an einander zu bringen und durch Vereinigung zu heilen vermag, welche schief von einander abstehende Knochen-Bruch-Enden, so viel sie auch Knochen-Gallerte (oft zum Ueberfluß) ausschwitzen läßt, nicht gerade zu richten und auf einander zu passen weiß, keine verletzte Arterie unterbinden kann, sondern den Verletzten in ihrer Energie zu Tode bluten macht, welche, nicht versteht, einen ausgefallenen Schulter-Kopf wieder einzurenken, wohl aber durch bald umher zuwege gebrachte Geschwulst die Kunst am Einrenken hindert – die, um einen in die Hornhaut eingestochenen Splitter zu entfernen, das ganze Auge durch Vereiterung zerstört und einen eingeklemmten Leisten-Bruch mit aller Anstrengung doch nur durch Brand der Gedärme und Tod zu lösen weiß, …“ (S. 32)
„… so hielt die alte Schule diese Ableitungen für den wahren Weg, die Krankheiten zu heilen, wenn sie solche Ausleerungen beförderte, unterhielt, oder gar vermehrte. Sie sah aber nicht ein, daß alle jene durch die sich selbst überlassene Natur veranstalteten Auswürfe und Ausscheidungen (anscheinende Crisen) in chronischen Krankheiten nur palliative, kurz dauernde Erleichterungen seien, welche so wenig zur wahren Heilung beitragen, daß sie vielmehr im Gegentheile das ursprüngliche, innere Siechthum mittels der dadurch erfolgenden Verschwendung der Kräfte und Säfte nur verschlimmern. Nie sah man durch solche Bestrebungen der rohen Natur irgend einen langwierig Kranken zur dauerhaften Gesundheit herstellen, nie durch solche vom Organism bewerkstelligte Ausleerungen irgend eine chronische Krankheit heilen. Da die Arzneikunst die verborgnen Wege, auf welchen die Lebenskraft ihre Crisen veranstaltet, nicht zu betreten im Stande war, sondern nur durch angreifende Mittel von außen es zu bewirken unternimmt, welche noch weniger wohlthätig, als was die sich selbst überlassene, instinktartige Lebenskraft auf ihre Weise thut, aber dagegen noch störender sind und noch mehr die Kräfte rauben. Denn auch die unvollkommne Erleichterung, welche die Natur durch ihre Ableitungen und Crisen bewirkt, kann die Allöopathie auf ähnlichem Wege nicht erreichen; sie bleibt noch tief unter der jämmerlichen Hülfe, welche die sich allein überlassene Lebenskraft zu verschaffen vermag, mit ihren Bemühungen zurück.“ (S. 36 ff.)