Individualisierung und Versorgungsforschung – Ergänzung oder Gegensatz?
16. Juni 2010, 18.30 Uhr, Berlin
Prof. Dr. Claudia Witt und Dr. Michael Teut
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Ort: Landesvertretung Sachsen-Anhalt, Luisenstraße 18, 10117 Berlin
Jede Krankheit ergreift als Störung den Organismus in seiner Gesamtheit und kann nur so betrachtet und behandelt werden
Die moderne klinische Forschung beruht auf einer seriellen Betrachtung. Dem liegt die Annahme zugrunde: Man kann auf der Basis von Mittelwerten Entscheidungen für eine größere Bevölkerungsgruppe treffen. Eine weiteres Paradigma der modernen klinische Forschung: Krankheiten sind selbständige Entitäten, die als solche erforscht werden können. Klinische Studien erfordern klare nachvollziehbare Einschlusskriterien und Ausschlusskriterien für die Studienteilnehmer, eine standardisierte Therapie und einen standardisierbaren Endpunkt (Erfolgsparameter).
Die Idealkrankheit aus dem Lehrbuch hat eine einzelne definierte Ursache und führt zu ebenso klar definierten Symptomen. Am ehesten passen noch die klassischen Infektionskrankheiten und die genetisch bedingten Krankheiten in dieses Schema – aber selbst hier gibt es individuelle Schwankungen. (Warum blutet ein Hämophilie-Kranker nicht ständig?). Ansonsten zeigt sich in der Mehrzahl der real existierenden Krankheiten, dass diesen – typisch für Phänomene in komplexen Systemen – ein Bündel von Ursachen zu Grunde liegt, und dass sich eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nicht herstellen lässt.
Innerhalb der etablierten konventionellen Medizin werden individualisierte Konzepte anerkannt – in der Psychosomatik und Psychotherapie. Als eine Referenz für die individualisierte Medizin kann hier Thure von Uexküll, der Nestor der Psychosomatik zitiert werden: „Es gibt keine psychosomatischen Krankheiten, so wie es keine rein körperlichen Leiden gibt. Bei jedem menschlichen Leiden, vom Schnupfen bis zum Krebs, greifen Körperliches, Seelisches und Soziales auf unlösbare, oft auch unschaubare Weise ineinander.“
Aus Sicht der Homöopathie ist der Mensch eine Einheit aus Körper, Geist und Seele. Jede Trennung zwischen körperlichen, seelischen und geistigen Symptomen wäre eine künstliche Trennung. Jede Krankheit ergreift als Störung den Organismus in seiner Gesamtheit und kann nur so betrachtet und behandelt werden.
Aus Sicht der Homöopathie (und auch aus Sicht der Psychotherapie) sind Krankheitsdiagnosen ein wichtiges Instrument aufgrund ihrer prognostischen Aussage – nicht jedoch Indikator einer individuellen therapeutischen Betrachtung. Die individuelle Therapie kann nur aufgrund der individuellen Symptomatik festgelegt werden.
Für eine individualisierte Medizin, wie es die Homöopathie ist (aber auch die Psychotherapie) spielt die Versorgungsforschung eine relevante Rolle.
Zusammenfassung der Vorträge
Die beiden Referenten Prof. Dr. Claudia Witt und Dr. Michael Teut skizzierten in ihren Vorträgen, wieviel Individualität sich im Rahmen von Studien abbilden lässt und welche Studiendesigns dafür Sinn machen. Es folgte eine Diskussion mit engagiertern und sachkundigen Beiträgen aus dem Publikum.
In der homöopathischen Fallaufnahme und Behandlung spielt die Individualisierung eine wesentliche Rolle. Das stellt andere Anforderungen an das Studiendesign als übliche Arzneimittelstudien, die in der Regel von einer Standardisierung der Diagnose, der Therapie und der Erfassung des Therapieerfolgs geprägt sind. „Ich war bei der Auseinandersetzung mit dem Thema überrascht, wie viel Individualisierung in der Versorgungsforschung grundsätzlich möglich ist“, klärt Witt entgegen so manchem Vorurteil auf. Die Versorgungsforschung untersucht per Definition eben die Versorgung der Bevölkerung und von Einzelnen. Ihre Beobachtungseinheiten umfassen Individuen genauso wie Familien, Populationen oder Organisationen.
Insbesondere pragmatische randomisierte Studien mit heterogenen Patientengruppen und komplexen Therapiekonzepten sind dazu geeignet, individualisiert zu werden. „Die homöopathische Anamnese kann ins Forschungsdesign einfließen“, erläutert Witt, „auch individualisierte Arzneimittelwahl kann in einer Studie berücksichtigt werden.“ All dies ist bereits mit dem gängigen Methoden-Baukasten der Forschung möglich, auch wenn es noch zu selten genutzt wird. „Im Studienergebnis selbst ist das Individuum jedoch nicht mehr zu erkennen“, erläutert Witt, „Individualisierung in der Diagnostik und Therapie ist in Studien jedoch grundsätzlich möglich.“
Dr. Teut geht auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Kasuistik ein. „Einzelfälle werden in der Forschung zunehmend diskutiert. Sie sind anfassbar für den Kliniker“, betonte bereits Witt. Teut präsentiert unterschiedliche Studiendesigns und geht ausführlich auf das Problem der Kausalität am Einzelfall ein. Welche Entwicklungen des Patienten sind die Folge der ärztlichen Intervention, und welche nicht? Ist Kausalität, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, ein von unserer Wahrnehmung und unserem Denken abhängiges Konstrukt?
Neben der Sensibilisierung des Plenums für solche erkenntnistheoretischen Fragen erklärt Teut, weshalb jeder Arzt auch ein Forscher sein kann: „Der Trick an den Einzelfallstudien ist, dass der Arzt seine Methoden zur Beurteilung der Wirkung von Therapien am einzelnen Patienten prospektiv, also vorausschauend und mit System anwendet.“ Jeder Arzt, der beispielsweise einen chronisch Kranken behandelt, macht intuitiv ein sogenanntes AB-Design. Er vergleicht den Zustand des Patienten vor der Therapie (A) mit dem Zustand während bzw. nach der Therapie (B). Aufbauend auf der Idee, systematisch verschiedene Therapiephasen im Laufe der Therapiezeit miteinander zu vergleichen, können unterschiedliche Designs aufgebaut werden, prinzipiell können sogar Placebophasen, Verblindung und Randomisation angewendet werden. Ziel dieser experimentellen Einzelfallstudien ist es, für den Patienten individuell die bestmögliche Therapie zu finden. In einer experimentellen Einzelfallstudie wird im Gegensatz zum normalen Praxisalltag systematisch, vorausschauend vorgegangen und sehr genau dokumentiert. Wichtig ist es, individuell passende und aussagefähige Zielkriterien zu finden und zu evaluieren. Neben den experimentellen Einzelfallstudien gibt es auch Kriterien, mit denen sich die Kausalität einer therapeutischen Intervention im Einzelfall beurteilen lässt, beispielsweise in dem Konzept der Cognition Based Medicine (CBM).
Die allgemeine wissenschaftliche Aussagekraft eines Einzelfalls hält sich jedoch in Grenzen: „Während die Aussage für den Einzelfall valide ist, kann man die Ergebnisse natürlich nicht auf ein Patientenkollektiv verallgemeinern. Dies wäre aber prinzipiell durch Fallserien erreichbar“, empfiehlt Teut. Ein gemeinsames, systematisches Vorgehen homöopathischer Ärzte bei der Erstellung von Einzelfallstudien ist möglich und macht Sinn, um die Homöopathieforschung voranzutreiben – die rudimentär bereits in jeder Praxis stattfindet.
Und was sagt das Organon zur Individualisierung?
• Einleitung
„So wenig wir Sterbliche den Vorgang im Haushalte des gesunden Lebens einsehen, so gewiß er uns, den Geschöpfen, eben so verborgen bleiben muß, […]so wenig können wir auch den Vorgang im Innern beim gestörten Leben, bei Krankheiten, einsehen. Der innere Vorgang in Krankheiten wird nur durch die wahrnehmbaren Veränderungen, Beschwerden und Symptome kund, wodurch unser Leben die innern Störungen einzig laut werden läßt, so daß wir in jedem vorliegenden Falle nicht einmal erfahren, welche von den Krankheits-Symptomen Primärwirkung der krankhaften Schädlichkeit, oder welche Reaction der Lebenskraft zur Selbsthülfe seien. Beide fließen vor unsern Augen in einander und stellen uns bloß ein nach außen reflectirtes Bild des innern Gesammtleidens dar, indem die unhülfreichen Bestrebungen des sich selbst überlassenen Lebens, das Leiden zu enden, selbst Leiden des ganzen Organisms sind.“ (S. 32f.)
„… Wie oft hat nicht schon ein kränkendes Wort, ein gefährliches Gallenfieber, eine abergläubige Todes-Prophezeiung, ein Absterben zur angekündigten Zeit, und eine jählinge, traurige oder höchst freudige Nachricht den plötzlichen Tod zuwege gebracht?“ (S. 26)
• Pathophysiologie als zeitabhängiges theoretisches Konzept, sichere und feststehende Zeichen einer Krankheit sind die Symptome
§ 7
„Da man nun an einer Krankheit, von welcher keine, sie offenbar veranlassende oder unterhaltende Ursache (causa occasionalis) zu entfernen ist, sonst nichts wahrnehmen kann, als die Krankheits-Zeichen, so müssen, unter Mithinsicht auf etwaniges Miasm und unter Beachtung der Nebenumstände (§ 5), es auch einzig die Symptome sein, durch welche die Krankheit die, zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert und auf dieselbe hinweisen kann – so muß die Gesammtheit dieser ihrer Symptome, dieses nach außen reflectirende Bild des innern Wesens der Krankheit, d.i. des Leidens der Lebenskraft, das Hauptsächlichste oder Einzige sein, wodurch die Krankheit zu erkennen geben kann, welches Heilmittel sie bedürfe, – das Einzige, was die Wahl des angemessensten Hilfsmittels bestimmen kann – so muß, mit einem Worte, die Gesammtheit der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinwegzunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.“
§ 8
„Es läßt sich nicht denken, auch durch keine Erfahrung in der Welt nachweisen, daß, nach Hebung aller Krankheitssymptome und des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren Zufälle, etwas anders, als Gesundheit, übrig bliebe oder übrig bleiben könne, so daß die krankhafte Veränderung im Innern ungetilgt geblieben wäre1. Wenn jemand dergestalt von seiner Krankheit durch einen wahren Heilkünstler hergestellt worden, daß kein Zeichen von Krankheit, kein Krankheits-Symptom mehr übrig und alle Zeichen von Gesundheit dauernd wiedergekehrt sind, kann man bei einem solchen, ohne dem Menschenverstande Hohn zu sprechen, die ganze leibhafte Krankheit doch noch im Innern wohnend voraussetzen? Und dennoch behauptete der ehemalige Vorsteher der alten Schule, Hufeland, dergleichen mit den Worten (s. d. Homöopathie S. 27, Z. 19): »die Homöopathik kann die Symptome heben, aber die Krankheit bleibt« – behauptete es theils aus Gram über die Fortschritte der Homöopathik zum Heile der Menschen, theils weil er noch ganz materielle Begriffe von Krankheit hatte, die er noch nicht als ein dynamisch von der krankhaft verstimmten Lebenskraft verändertes Sein des Organisms, nicht als abgeändertes Befinden sich zu denken vermochte, sondern sie für ein materielles Ding ansah, was nach geschehener Heilung noch in irgend einem Winkel im Innern des Körpers liegen geblieben sein könnte, um dereinst einmal bei schönster Gesundheit, nach Belieben, mit seiner materiellen Gegenwart hervorzubrechen! So kraß ist noch die Verblendung der alten Pathologie! Kein Wunder, daß eine solche nur eine Therapie erzeugen konnte, die auf bloßes Ausfegen des armen Kranken losging.“
• Weitere Paragraphen zum Thema
§§ 10, 11-18: Lebenskraft als Modell/Konzept einer individualisierten Betrachtung des Organismus
§§ 189 und 190: Erkrankungen sind (von äußerlichen Einwirkungen abgesehen) immer Erkrankungen des ganzen Organismus.
§ 208: Lebensumstände und Gemüths-Art müssen einbezogen werden.
§§ 210 und 211: Gemüthszustand gibt oft den Ausschlag für die Arzneiwahl.